Donnerstag, Februar 02, 2006

Babylonisches Wirrwar im kleinen Land der Schwarzen Berge

Im ehemaligen sozialistischen Jugoslawien gab es ein merkwürdiges Phänomen, das ich so nur noch aus der ehemaligen Tschechoslowakei kenne.

Einer der höchsten Güter in diesen multinationalen Staaten war es, dass jeder seine Nationalität selbst bestimmen und diese auch einfach so ändern konnte. Dies war dann auch der Grund für den Staat des Öfteren Volkszählungen durchzuführen, um zu wissen, aus welchen Nationen und Nationalitäten die Gesamtbevölkerung besteht.

Für die Schüler war es ein Spaß, als sie erklärt bekommen haben, dass sie alleine bestimmen können, welcher Ethnie sie angehören – so ganz nach Lust und Laune. Sowohl die tschechoslowakischen, als auch die jugoslawischen Kinder meinten dann:
„Ach, heute fühle ich mich dann einmal als Eskimo, und du?“.

Jugoslawien hatte aber weitere Besonderheiten. Es gab zum einen neben den traditionellen Nationen, Nationalitäten und Minderheiten, wie Slowenen, Kroaten oder etwa die Serben, die Nation „Jugoslawe“. Nur eine Minderheit bekannte sich zu dieser neu geschaffenen Nation, aber immerhin.

Skurriler war Titos Erfindung der Nation „Musliman“ (Muslim) 1971 vor allem für die bosnischen Muslime. Es wurde nun unterschieden zwischen musliman (kleingeschrieben) für die Religionszugehörigkeit, der eben auch Albaner angehören können und Musliman (großgeschrieben) für die neue Nation.

Vor dieser Reform definierten sich die Muslime eben als Serben oder Kroaten mit muslimischen Glauben.

Während man einen Slowenen, Makedonier oder Angehörigen der albanischen oder ungarischen Minderheit anhand ihrer Sprache erkannte, konnte NUN die große Masse der jugoslawischen Bevölkerung anhand der Religion definiert werden.

Fast alle Katholiken, die serbokroatisch sprachen sahen sich als Kroaten, alle Muslime serbokroatischer Zunge als Muslimani und alle Orthodoxen als Serben oder Montenegriner. Bekannte Ausnahmen bilden z.B. der Literaturnobelpreisträger Ivo Andric, der sich als Serbe sah, obwohl er aus Bosnien stammte und katholische Vorfahren hatte, genauso wie der bekannte Filmregisseur Emir Kusturica, der ursprünglich bosnischer Muslime war. Wie gesagt, sind das allerdings Ausnahmen.

Im Laufe des Bosnienkrieges und vor allem mit Aufkommen des islamischen Terrorismus und Stigmatisierung muslimischer Bewegungen erinnerten sich die Muslime serbokoratischer Zunge an den nicht mehr gebräuchlichen Begriff „Bosniake“. Somit definierten sich viele Muslime (Musliman) als Bosniaken.
Während der „Bosnier“ nun für die Bewohner Bosniens verwendet wird, ganz egal welcher Nationalität sie angehören (Serbe, Kroate, Bosniake/Muslime), bezeichnet man mit „Bosniake“ die slawischen Muslime in Bosnien, Kroatien, Serbien (hier gibt es dazu noch die Goraner. Slawische Muslime im Kosovo mit eigenen Traditionen) und Montenegro.

Somit wäre die Begriffe Muslime und Bosniake geklärt und es geht weiter im jugoslawischen Fleckenteppich.

Nun geht’s um die Montenegriner. Eigenbezeichnung ist Crnogorac (~ Schwarzberger), weil sie die schwarzen Gebirge bewohnen.
Als die Türken im 14. Jahrhundert die serbischen Staaten nacheinander okkupierten, blieb ein Flecken unbesetzt und zwar das sagenhafte Montenegro. Dort etablierte sich im Laufe der Zeit ein patriarchalisches Bischoffsfürstentum.

Von Petar II Petrovic Njegos (der Goethe des Balkans), im 19. Jahrhundert Dichterherrscher über Montenegro stammt der Ausspruch, dass er montenegrinischer Herrscher und serbischer Dichter sei.

Und genau hier gelangen wir nun zur spannenden Frage. Was sind Montenegriner oder wie unterscheiden sie sich von den Serben. Durch die bewahrte Selbstständigkeit kann ein eigener Weg und eigene (vor allem patriarchale) Tradition nicht geleugnet werden. Andererseits bestehen die Montenegriner aus einem guten Dutzend serbischer (oder nun doch montenegrinischer) Stämme.

Bis in die 1990er Jahre konnte man sagen, dass die Montenegriner die besseren Serben waren, wie die Bayern die besseren Deutschen.
Das Parlament des Königreiches Montenegro Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts nannte sich „Serbische Versammlung Montenegros“. Auch die Flagge ähnelte damals der serbischen. Es gab eben nur zwei Herrscher und zum Ende des 1. Weltkrieges beschloss das montenegrinische Parlament ihren König abzusetzen und Teil des Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen zu werden, das später dann Jugoslawien hieß.

Doch was einmal war, gilt nicht mehr.

Im Zuge der Balkankriege und des System Milosevic etablierte sich ein sehr merkwürdiges System in Montenegro.

Da nennt sich zum Beispiel sowohl die größte Regierungspartei, als auch die größte Oppositionspartei „sozialistisch“. (Demokratische Partei der Sozialisten <-> Sozialistische Volkspartei Montenegros.) Ich muss nicht erwähnen, dass die drittstärkste Partei eine sozialdemokratische ist.

Ein Erbe Milosevics, denn beide Parteien stammen aus einer Parteienspaltung und waren irgendwann mit Milosevic verbündet.

Der momentane Autokrat in Montenegro, Milo Djukanovic, ist ein ehemaliger (und sehr junger) Zögling Milosevics gewesen, der sich von ihm abwendete, als er ihn nicht mehr brauchte und es für seine Machtsicherung besser war, nichts mehr mit dem alten Meister zu tun zu haben. Er hat eben viel gelernt.
Erst war er lange Präsident und da ihm politische Immunität gut tut, er aber laut Verfassung nicht mehr das Amt des Präsidenten bekleiden durfte, wurde er eben Premier und ist weiterhin derjenige der bestimmt, wie was wo passiert. Immunität braucht der immer noch sehr junge Politiker, weil er wohl ziemlich tief in Zigarettenschmuggel verstrickt ist und vor allem die italienischen Staatsanwälte, die ja gerade die schwierigen Maffiafälle lieben, wie hungrige Haie darauf warten ihn in einem italienischen Gerichtssaal zu sehen.

Also führt seitdem der autokratische Herrscher in einem patriarchalen Land eine Bewegung zur Unabhängigkeit des kleinen Balkanstaats, der nur etwas mehr Einwohner hat als Nürnberg.

Am Anfang konnte er sich als Musterdemokrat präsentieren, der sich von Milosevic loslösen möchte. Nun ist das nicht mehr so leicht möglich. Nichtsdestotrotz führt er seinen Kurs weiter fort und in diesem Frühjahr soll ein Referendum über das Schicksal des Bergstaates entscheiden. Hier zu wird es mehr geben, wenn das Referendum näher rückt, denn die Kampagnen sind mehr als interessant.

Kommen wir aber zum Thema Nationalitäten zurück und schauen uns die letzte Volkszählung in Montenegro aus dem Jahre 2003 an:

Montenegriner: 267.669 (43,16%)
Serben: 198.414 (31,99%)
Bosniaken: 48.184 (7,77%)
Albaner: 31.163 (5,03%)
Slawische Muslime: 24.625 (3,97%)
Kroaten: 6.811 (1,10%)
Roma und Sinti: 2.601 (0,42%)

Interessant hierbei ist, dass sich im Unterschied zu den vorherigen Volkszählungen so viele orthodoxe Montenegriner als Serben bezeichnet haben. Dies sollte eher als politische Demonstration und weniger als Beweis der ethnischen Zugehörigkeit gewertet werden. Der montenegrinische Korpus ist als geteilt in „Montenegriner“ und „Serben“. In diesem Zusammenhang ist es interessant, was die Befragten angaben, welches ihre Muttersprache sei: in der Volkszählung von 2003 gaben 59,67% der Bevölkerung Serbisch und 21,53% Montenegrinisch als ihre Muttersprache an.

Weitaus interessanter finde ich allerdings das Phänomen, dass prozentual viele Muslime in Montenegro sich auch weiterhin als „Muslime“ und nicht als „Bosniaken“ deklarieren. Mich hat das überrascht, als ich das heute in einer Zeitung las, weil der Trend auf dem Balkan doch zum Bosniakentum hingeht.

Weit aus interessanter fand ich allerdings, dass auch der slawisch-muslimische Korpus in Montenegro geteilt ist, wie der montenegrinische. Die „Muslime“ sehen sich als Montenegriner und Muslime in persona und akzeptieren deshalb den Begriff „Bosniake“ nicht. Ihre Nationalität ist also Montenegrinisch und sie sind in der Mehrheit, wie die „Montenegriner“ für die Unabhängigkeit.
Die „Bosniaken“ sehen sich hingegen nur als Minderheit in Montenegro. Zudem befürchten sie, dass sie durch eine Unabhängigkeit von ihren bosniakischen Brüdern in Serbien (Grenzregion Sandzak zu Montenegro und Bosnien) getrennt wären und sind mehrheitlich, wie die „Serben“ Montenegros gegen eine Abspaltung.

Da es sich hier mehr um politische, als um ethnische Begriffe handelt, habe ich diese in Klammern gesetzt. Ich hoffe es hat irgendjemand nur halbwegs durchgeblickt. ;-)
Für mich war der Teil mit den Muslimen in Montenegro neu und ich musste es irgendwie loswerden…

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